Es ist fast schon wieder ein Jahr her, als die deutsche Medienlandschaft von einem Skandal erschüttert wurde: Spiegel-Autor Claas Relotius hatte wohl Dutzend Texte gefälscht. Aufgedeckt wurde das von seinem Kollegen Juan Moreno. Der Skandal hinter dem Skandal: ihm wollte man zunächst nicht glauben. Über diese Zeit hat Moreno ein Buch geschrieben, das selbst auch schon wieder in der Kritik steht: „Tausend Zeilen Lüge: Das System Relotius und der deutsche Journalismus“
Ich bin schon auf Relotius reingefallen, bevor er für den Spiegel schrieb. Keine Ahnung, wie die Geschichte der NZZ mich erreichte, vermutlich über Facebook oder Twitter. Es ging um Blutrache in Albanien und obwohl das schon ein paar Jahre her ist, erinnere ich mich gut daran, dass ich mir damals dachte: „Das kann doch nicht wahr sein.“ Heute weiß ich, dass es auch nicht wahr war, jedenfalls nicht in den Dimensionen in denen es Relotius damals beschrieben hat.
Juan Moreno hat Relotius zu Fall gebracht – gegen alle Widerstände. Moreno hat, nachdem man seinen Vorwürfen beim Spiegel nicht nachgegangen ist, auf eigene Faust hinter Relotius‘ Geschichten her recherchiert und belastendes Material mitgebracht. Und ihm wollte immer noch keiner glauben. Zu tief hatte Relotius seine Spiegel-Kollegen in das Netz aus Halbwahrheiten, Übertreibungen und Lügen eingewickelt, das ihm schließlich noch die Beförderung zum Ressortleiter einbringen sollte – kurz vorher platzte die Bombe.
Eigentlich ein Krimi, aber echt passiert
Was sich sehr literarisch anhört, ist tatsächlich genauso spannend wie ein guter Krimi, denn im Prinzip ist diese Geschichte nichts anderes, nur dass zumindest diesmal die Realität abgebildet ist. Mutmaßlich sollte man sagen, denn Relotius hat über seinen Anwalt kurz nach der Veröffentlichung natürlich versucht, das Buch zu diskreditieren.
Moreno schreibt im Buch ganz zu Anfang: „Dieses Buch ist keine Abrechnung. Nicht mit dem «Spiegel». Nicht mit meinen damaligen Chefs. Nicht mal mit Claas Relotius. Auf der anderen Seite ist es auch keine Auftragsarbeit. Der «Spiegel» wird es nicht mögen. Das kann ich versprechen.“ Warum sollte der Spiegel das Buch auch mögen? Schließlich hat Moreno im wahrsten Sinne des Wortes eine heilige Kuh geschlachtet und sich zunächst selbst damit in die Schusslinie gebracht: „…mir war völlig unklar, wie beliebt und wie wichtig er für das Ressort war. Ich hatte mir den denkbar schlechtesten Verdächtigen ausgesucht. Ein ehemaliger «Spiegel»-Chefredakteur erzählte später, dass Relotius im Gesellschaftsressort «vergöttert» wurde.“ Es konnte einfach nicht sein, was nicht sein darf.
«Für Claas lege ich meine Hand ins Feuer.»
Dieses Zitat schreibt Moreno einem Dokumentar der Spiegel-Dokumentation zu. Doch entdeckte die Dokumentation über Jahre selbst vergleichsweise einfache Fehler nicht oder ließ sich ebenfalls von Relotius‘ Märchen einwickeln. Trotz des eigenen Wahlspruchs: „Wir glauben erst mal gar nichts.“ Moreno rechnet nicht mit der Spiegel-Dokumentation ab, jeder Leser kann von selber drauf kommen, dass man diesem Anspruch offenbar nicht gerecht geworden ist.
Nein, das Buch ist keine Abrechnung. Es ist eine umfangreiche Selbstreflektion eines Mannes, der kurz davor war, seine Existenz zu verlieren. Moreno ist freier Mitarbeiter beim Spiegel, könnte also von jetzt auf gleich nicht weiter beschäftigt werden. Er erhob Vorwürfe gegen einen festangestellten Reporter bei dessen Vorgesetzten. Man sah in ihm einen Neider, einen unbequemen Störer und macht ihm deutlich, dass er Ruhe zu geben habe. Für den Familienvater existenzbedrohend.
Journalismus hat sich verändert
In Zeiten von „Lügenpresse“-Rufern hat Relotius unserer Profession einen Bärendienst erwiesen. Das Buch legt nahe, dass wohl ein psychisches Problem vorliegt und Relotius einfach ein pathologischer Lügner ist. Wenn das so ist, gehört er in Behandlung, aber bitte bitte nie wieder in eine Redaktion. Moreno konstatiert: „Der Journalismus ist ein anderer geworden nach Relotius.“ Nach der Lektüre von Tausend Zeilen Lüge uneingeschränkte Zustimmung. Ich weiß nur nicht, ob zum Guten oder zum Schlechten. Was ist eure Meinung? Schreibt es in die Kommentare.
Hier geht’s zum Buch bei Amazon (Affiliate-Link). Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar kostenlos zur Verfügung gestellt.